Ausgrenzung, Entrechtung, Völkermord: die nationalsozialistische Politik gegen die jüdische Bevölkerung
Nachdem Adolf Hitler am 30. Januar 1933 zum Reichskanzler ernannt worden war, fanden alle jüdischen Emanzipationsbestrebungen in Deutschland ein Ende. Mit ihrem Herrschaftsantritt konzentrierten sich die Nationalsozialisten auf die Durchsetzung der Führer-Diktatur mit der NSDAP (Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei) als einziger Partei in Deutschland und auf die Ausschaltung der politischen Opposition. Schnell wurde auch die Ausgrenzung der Juden als Kernelement der NS-Ideologie in die Praxis umgesetzt. Es wurden während der NS-Zeit ca. 2000 antijüdische Gesetze erlassen. Im Verlaufe des Zweiten Weltkrieges ermordeten die Nationalsozialisten und ihre Helfer sechs Millionen Juden.
Wie konnte es dazu kommen? In diesem Themenbereich geht es um die nationalsozialistische Politik gegen die jüdische Bevölkerung und deren Hintergründe. — und exemplarisch um die Rolle des Warschauer Ghettos für diese Politik in diesem Kontext.
Boykott jüdischer Geschäfte
Am 1. April 1933 wurde um 10 Uhr morgens ein reichsweiter Boykott gegen jüdische Deutsche ausgerufen. Es sollten zum Beispiel jüdische Geschäfte und Arztpraxen nicht betreten werden. Dieser Boykott wurde vom sogenannten „Zentralkomitee zur Abwehr der jüdischen Greuel- und Boykotthetze“ unter Führung von Julius Streicher ausgerufen. Um sicherzustellen, dass möglichst niemand ein jüdisches Geschäft betreten würde, wurden die SA und teilweise die SS vor den Geschäften postiert, um Passanten am Betreten zu hindern. Dieser Boykott endete am Abend des 1.April und wurde drei Tage später offiziell für beendet erklärt. Er hatte erhebliche Folgen für jüdische Geschäfte. Viele wurden auch nach Beendigung des Boykotts weiterhin gemieden. Es folgte wenig später das „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“: „Nichtarische“, also insbesondere jüdische Beamte, wurden entlassen. Weiterhin folgte das Gesetz zum „Ariernachweis“: Familien mussten über drei Generationen nachweisen, ob sie rein „arischer“ Abstammung waren oder nicht.
„Nürnberger Rassengesetze“
Die diskriminierenden „Nürnberger Rassengesetze“ wurden am 15. September 1935 von den Nationalsozialisten eingeführt, um die jüdische Bevölkerung auszugrenzen. Die seit der Reichsgründung 1871 erzielte Juden-Emanzipation wurde so zunichte gemacht. Den Jüdinnen und Juden wurden mit dem „Reichsbürgergesetz“ die politischen Rechte genommen. Das sogenannte „Blutschutzgesetz“ verbot die Eheschließung zwischen Jüdinnen und Juden und "Staatsangehörigen deutschen Blutes“ und auch deren außerehelichen Geschlechtsverkehr. Es wurde unterschieden zwischen „Volljuden“, „Halbjuden“ und „Vierteljuden“. Die Gesetze führten zu einer Spaltung der Gesellschaft „arischer Staatsbürger“ und „nichtarischer Reichsbürger“. Sie waren die Basis dafür, die jüdische Bevölkerung aus dem normalen Alltag auszuschließen, da sie unter anderem als „Gegenrasse“ bezeichnet wurden. Dies wurde deutlich, indem Geschäfte oder Gewerbe jüdischer Bürger wenig oder gar nicht mehr besucht wurden.
Novemberpogrome
Die Novemberpogrome, auch als „Reichskristallnacht“ bezeichnet, waren eine Serie von gewalttätigen Ausschreitungen gegen Juden, die sich in der Nacht vom 9. Auf den 10. November 1938 im Deutschen Reich ereigneten. Diese Ereignisse markieren einen entscheidenden Wendepunkt in der Diskriminierung und Verfolgung der jüdischen Bevölkerung, indem sie nämlich das jüdische Leben in Deutschland beenden sollten. Die Pogrome wurden von den Nationalsozialisten als vermeintliche Reaktion auf den Mord an Ernst vom Rath, einem deutschen Diplomaten in Paris, präsentiert. Dieser Mord wurde einem jungen polnisch-jüdischen Flüchtling zugeschrieben. In Wirklichkeit waren die Pogrome jedoch sorgfältig geplante und koordinierte Aktionen der NSDAP.
Während der Pogrome wurden Synagogen in Brand gesteckt, Geschäfte zerstört und geplündert, jüdische Friedhöfe geschändet und zahlreiche Juden wurden misshandelt, es gab ungefähr 1500 Juden unter der jüdischen Bevölkerung. Die Bezeichnung „Reichskristallnacht“ bezieht sich auf die Unmenge zerbrochener Glasscheiben, die durch die Zerstörung von Synagogen und jüdischen Geschäften entstanden sind.
Die Novemberpogrome markieren den Übergang von der Diskriminierung der Juden zu offener Gewalt und legten den Grundstein für die systematische Vernichtungspolitik des Holocaust. Die Ereignisse verdeutlichten die eskalierende Brutalität des nationalsozialistischen Regimes und schufen eine Atmosphäre der Angst und Unsicherheit für die jüdische Bevölkerung in Deutschland. 30.000 Jüdinnen und Juden wurden in Konzentraionslager verschleppt. Zehntausenden gelang noch die Flucht ins Ausland — eine Möglichkeit, die aber vielen, vor allem aus finanziellen Gründen, verwehrt blieb. Die internationale Gemeinschaft reagierte mit Entsetzen, aber es zeigte sich auch, dass die systematische Diskriminierung und Verfolgung der Juden in Deutschland ohne nennenswerten Widerstand blieb.
Zweiter Weltkrieg und Völkermord an den europäischen Juden
Mit dem Beginn des Zweiten Weltkriegs waren Juden vollständig aus dem öffentlichen Leben ausgeschlossen. Die Verpflichtung zum Tragen des sogenannten „Judensterns“, die Errichtung von Ghettos in den von den Deutschen besetzten Gebieten wie beispielsweise in Warschau, sowie die Einführung der Zwangsnamen „Sara“ und „Israel“ waren weitere Maßnahmen, um die Gemeinschaft zu isolieren. Schließlich erfolgte die systematische Deportation der jüdischen Bevölkerung in die Vernichtungslager wie Chelmno, Belzec, Treblinka und Sobibór, ebenso wie in die Konzentrationslager Auschwitz und Majdanek. Hier erreichte der Massenmord an Millionen von jüdischen Männern, Frauen und Kindern seinen grausamen Höhepunkt.
„Todesmärsche“
Mit dem Vorrücken der Alliierten Armeen zum Ende des Zweiten Weltkriegs wurden fast alle Konzentrationslager durch SS-Soldaten geräumt. Diese sogenannten „Todesmärsche“ sollten die Befreiung durch die Alliierten verhindern. Mit brutaler Gewalt wurden die Häftlinge durch Dörfer und Straßen getrieben. Die meisten von ihnen starben vor Erschöpfung, an Unterernährung oder Ermordung. Mehr als 250.000 Menschen verloren ihr Leben auf den „Todesmärschen“. Die ersten „Todesmärsche“ fanden in Ostpolen, Frankreich und den Niederlanden statt.
Bei der Räumung des Konzentrationslagers in Auschwitz im Januar 1945 erfroren viele Insassen in der Winterkälte. Die Überlebenden kamen in Ziellagern an, in denen durch die SS „Todeszonen“ errichtet wurden. Dorthin wurden die schwächsten Insassen gebracht, die dann ihrem Schicksal ausgesetzt waren. Gleichzeitig wurden Insassen, die krank oder schwach waren, ermordet. Schließlich wurden die letzten in Deutschland verbliebenen Konzentrationslager aufgelöst. Die verbliebenen Insassen wurden in den letzten Tagen des Krieges befreit.
Ungefähr sechs Millionen Juden verloren ihr Leben durch Verfolgung und systematische Tötung durch die Nationalsozialisten.
Sichtweisen auf das Handeln und Denken der Täter
Der amerikanische Historiker Timothy Snyder untersucht in seinem Buch „Bloodlands“, welches 2010 veröffentlicht wurde, die Territorien, die zwischen 1933 und 1945 unter deutscher oder sowjetischer Herrschaft standen. In seinem Buch geht er auf die Deportationen und die Vernichtung der Juden ein. Snyder beschreibt die Hauptorganisatoren des Holocausts, Heinrich Himmler, Reichsführer SS und Chef der deutschen Polizei, und Reinhard Heydrich, Leiter des Reichssicherheitshauptamtes als brutale Massenmörder. Heydrich war von Hermann Göring mit der sogenannten „Endlösung der Judenfrage“ beauftragt worden. Himmler und Heydrich setzten die Deportations- und Vernichtungspolitik um. Durch ihre Pläne der „Vernichtung durch Arbeit“ starben viele Menschen an körperlicher Erschöpfung oder sie verhungerten elendig. Jüdische Menschen, die zu schwach für die Arbeit waren, wurden sofort aussortiert und ermordet. Durch das Vorrücken der Wehrmacht nach Osten („Der Osten gehört der Schutzstaffel.“8) gerieten Millionen als „minderwertig“ betrachtete Zivilisten in die Hände der SS. Dies deckte sich mit den Plänen Hitlers. Im weiteren Kriegsverlauf radikalisierten sich die Pläne Hitlers und Himmlers bis hin zur völligen Vernichtung. Timothy Snyder zeigt in „Bloodlands“, wie stark die Ideologie von Hitler und seinen Anhängern ausgeprägt war. Er beschreibt die brutalen und aggressiven Pläne und Visionen der verschiedensten Führer. Er geht auf die vielen Menschen ein, die in diesen Territorien ihr Leben lassen mussten und stellt ihre miserablen Lebensgeschichten dar. Dabei geht er auf historische Ereignisse ein und bietet einen konkreten Einblick in die Zeit zwischen 1933 und 1945.
Daniel Goldhagen, Christopher Browning und Harald Welzer haben verschiedene Beiträge zur Erforschung des Zweiten Weltkriegs und insbesondere des Holocaust geleistet. Ihre Thesen bieten unterschiedliche Perspektiven auf die Ursachen und Mechanismen der Gräueltaten während dieser dunklen Periode der Geschichte.
Goldhagen präsentiert in seinem Werk „Hitlers willige Vollstrecker“ die kontroverse These, dass der Holocaust nicht nur auf die Führungsebene der Nationalsozialisten zurückzuführen ist, sondern auch auf eine tief verwurzelte antisemitische Einstellung in der deutschen Gesellschaft. Er argumentiert, dass viele Deutsche nicht nur passiv zustimmten, sondern aktiv an den Verbrechen teilnahmen. Goldhagen betont die Existenz eines „eliminatorischen Antisemitismus“ in der deutschen Kultur, der die Umsetzung der Vernichtungspolitik ermöglichte.
Browning analysiert in seinem Buch „Ganz normale Männer“ das Verhalten der Reservepolizeibataillone, die an den Massenerschießungen von Juden beteiligt waren, insbesondere in Polen. Im Gegensatz zu Goldhagen stellt Browning die These auf, dass viele der Täter keine fanatischen Ideologen waren, sondern „ganz normale Männer“. Er betont den Einfluss von sozialem Druck und Gruppendynamik, die diese Männer dazu brachten, entgegen ihrer individuellen moralischen Werte zu handeln. Browning zeigt, dass der Übergang von Alltagssituationen zu Massenmord schleichend und oft durch Gruppenzwang erleichtert wurde.
Welzer fokussiert sich ebenfalls auf die Wandlung von „ganz normalen Menschen“ zu Tätern. Seine These betont soziale Prozesse und den Einfluss der Umgebung. Welzer argumentiert in seinem Buch „Täter. Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden“, dass individuelles Handeln stark von sozialen Normen und Gruppendynamiken beeinflusst wird. Er untersucht, wie Menschen ihre moralischen Grenzen verschieben können, wenn sie in eine Umgebung mit bestimmten sozialen Erwartungen und Rechtfertigungen eingebettet sind.
Insgesamt bieten diese Thesen verschiedene Erklärungsansätze für die Grausamkeiten des Holocaust. Während Goldhagen die gesellschaftliche Verantwortung betont, legen Browning und Welzer den Fokus auf individuelle Handlungen und soziale Dynamiken, wodurch sie gemeinsam ein facettenreiches Bild der Komplexität menschlichen Verhaltens in Zeiten des Krieges und der Unterdrückung zeichnen.
(Autorin: Lena Felderhoff)