Das Ringelblum-Archiv
Was ist das Ringelblum-Archiv?
Das Ringelblum-Archiv wurde von der Widerstandsgruppe »Oyneg Shabbes« — der jiddische Begriff bedeutet auf deutsch »Freude am Schabbat« — geschaffen. Es war ihr Untergrundarchiv und wurde am 22. November 1940 von dem Historiker Emanuel Ringelblum und seinen Mitstreiterinnen und Mitstreitern begonnen. Die Gruppe sammelte Dokumente aus allen möglichen Lebensbereichen, um sie in mehrfacher Ausführung an den unterschiedlichsten Orten zu sammeln und zu verstecken. Dabei nutzten die Widerstandskämpfer für die damalige Zeit weit fortgeschrittene soziologische Forschungsmethoden wie Umfragen, welche sie auswerteten und analysierten. Das Ringelblum-Archiv enthält wichtige Dokumente zur Aufklärung der Massenmorde an den Juden. Mit seinen über 35.000 erhaltenen Seiten ist es heute Teil des UNESCO-Weltkulturerbes.
Geschichte des Ringelblum-Archivs
Von der Gründung des Archivs am 22. November 1940 an bis April 1943 sammelte »Oyneg Shabbes« Dokumente über das Leben im Warschauer Ghetto. Ab dem Frühjahr 1942 wurden zunehmend Dokumente und Informationen über die Vernichtungspolitik der deutschen Besatzer gesammelt mit dem Ziel, die Öffentlichkeit zu alarmieren. Wenige Tage nach Beginn der Deportationen, am 3. August 1942, begann die Untergrundgruppe, die ersten Teile des Archivs zu sichern. Die Mitstreiter packten die Dokumente in zehn Metallkästen und versteckten sie in einem Keller eines Gebäudes. Im Februar des Folgejahres wurde der zweite Teil des Archivs in zwei großen Milchkannen ebenfalls in dem Keller versteckt. Der dritte und letzte Teil wurde im April 1943 an verschiedenen Orten verborgen. Im September 1946 wurde der erste Teil des Archivs in den Ruinen des Ghettos gefunden. Der zweite Teil wurde vier Jahre später gefunden, von fast dem gesamten dritten Teil fehlt bis heute jegliche Spur.
Illustration von Mitstreitenden der Widerstandsgruppe >> Oyneg Shabbes<< aus „Warschau, Warschau“ , Didier Zuili
Was sammelte »Oyneg Shabbes« in seinem Archiv und mit welchem Ziel?
Zu den Mitarbeitern des Ringelblum-Archivs gehörten viele verschiedene Menschen. Es waren Historiker, Pädagogen, Schriftsteller, Rabbiner, allesamt politisch und sozial engagierte Männer und Frauen, die die unterschiedlichsten Dokumente sammelten, gemeinsam katalogisierten und aufbewahrten. Es konnten öffentliche Dokumente sein, Presseausschnitte, Plakate, Flugblätter, Eintrittskarten, Einladungen, Lebensmittelmarken, persönliche Korrespondenz, Einberufungen zur Zwangsarbeit, Zeitschriften oder auch persönliche Dokumente wie Tagebücher, Schulaufsätze, Gedichte und Familienfotos. Die Gruppe sammelte auch Nazi-Propaganda sowie anderes Material über Aktivitäten der deutschen Besatzer. Die genaue Dokumentation erfasste auch Niederschriften von Zeugenaussagen sowie Dokumente über deutsche Verfolgungsmaßnahmen, den Widerstand oder die Selbstbehauptung in den Ghettos. Insgesamt gab es von jedem Dokument des Archivs drei Kopien. Die Intention hinter dieser ausführlichen Dokumentation war es, die unterschiedlichsten Meinungen und Perspektiven auf allen möglichen Ebenen festzuhalten. Dabei stand für Emanuel Ringelblum besonders eine objektive Betrachtung an erstre Stelle, dadurch wurden unter anderem individuelle Schicksale einzelner Bewohner des Ghettos festgehalten. Später sollte das Archiv den Alliierten als Zugang zu Beweisen für die NS-Besatzungspolitik dienen. So erschuf »Oyneg Shabbes« nicht nur eine möglichst objektive Quelle mit vielen Perspektiven, welche auch nach der NS-Zeit Einblicke in das Leben des Ghettos gewährleisten, sondern auch Beweise für den nationalsozialistischen Massenmord an den Juden.
Wie wurde das Ringelblum-Archiv entdeckt?
Drei Mitglieder des Ringelblum-Archivs überlebten den Holocaust, darunter Hersh Wasser, er war der Stellvertreter von Emanuel Ringelblum und einer der Wenigen, die das Versteck des Archivs kannten. Dank seiner Hilfe konnte am 18. September 1946 der erste Teil in den Ruinen gefunden werden. Am 1. Dezember 1950 wurde der zweite Teil des Archivs, versteckt in den Milchkannen, geborgen. Von dem dritten Teil des Archivs fehlt bis heute jegliche Spur. Es wurden bisher nur Bruchstücke eines Tagebuchs gefunden, weswegen die Existenz des dritten Teils von manchen Historikern angezweifelt wird. Durch den großen emotionalen Stress, dem die Mitglieder beim Verstecken der Dokumente ausgesetzt waren, konnten sie möglicherweise nicht richtig klassifiziert werden. Nach dem Fund ging es darum, tausende Dokumente durchzuarbeiten, um die Duplikate zu finden und zusammenzuführen, dabei waren manche Dokumente aufgrund von Wasserschäden nicht mehr lesbar. Um den gesamten Prozess des Zusammenführens zu beschleunigen, arbeitete man in Warschau mit den originalen Dokumenten und sendete Kopien nach Washington und Jerusalem.
Die historische Bedeutung des Archivs
Das Archiv hat in der Geschichte mehrere wichtige Rollen gespielt. Eine davon ist, dass es die Hinweise zur Ausrottung der jüdischen Bevölkerung an die polnische Exilregierung überlieferte. Die andere wichtige Rolle spielte das Archiv nach Kriegsende, denn es ist eine der wichtigsten Quellen für die Geschichte der polnischen Juden in der NS-Zeit. Denn die Nationalsozialisten wollten mit der Auslöschung der Juden auch ihre Geschichte auslöschen, aber durch ihre lebensgefährliche Arbeit erschufen Ringelblum und seine Mitstreiter Quellen für die Geschichte der polnischen Juden von unschätzbarer Bedeutung. Ihr ziviler Widerstand hat durch die Entdeckung der Quellen die Shoah überlebt. Insgesamt gesehen erreichte Ringelblum sein Ziel, die Geschichte objektiv an die Nachwelt zu überliefern, also nicht nur — er schuf weitaus mehr.
Das Ringelblum-Archiv heute
Das Ringelblum-Archiv wird heute im Jüdischen Historischen Institut in Warschau aufbewahrt. Es wurde im Jahre 1999 von der UNESCO in das Weltdokumentenerbe aufgenommen und ist somit ein Teil des UNESCO-Weltkulturerbes. Ebenfalls wurde an dem Fundort des Ringelblum-Archivs im Jahre 2021 eine Gedenkstätte errichtet. Sie zeigt in einem gläsernen Würfel ein handgeschriebenes Testament, welches 1942 von dem neunzehnjährigen Dawid Graber verfasst wurde. Darin geschrieben steht der Satz „Was wir durch unser Schreien und Weinen nicht weitergeben konnten, haben wir im Untergrund versteckt“.
(Autorin: Annika Sieben)
Illustration aus „Warschau, Warschau“ , Didier Zuili