Sichtweisen auf das Warschauer Ghetto: Ghettobewohner vs. Besatzer


Vieles ist über das Leben in den Ghettos der NS-Zeit bekannt, vieles auch über das Warschauer Ghetto. Wenn wir generell Quellen in Form von Fotos aus der Zeit des Nationalsozialismus sehen, sind diese oftmals Propagandabilder, am bekanntesten sind vielleicht die Fotografien Hitlers von seinem Leibfotografen Heinrich Hoffmannn. Bekannte Bilder aus dem Warschauer Ghetto sind zum Beispiel die Propagandafotos aus dem Stroop-Bericht im Zusammenhang mit der Niederschlagung des Warschauer Ghettos.
 
Welche Sichtweisen ergeben sich aus den verschiedenen Standpunkten? In wiefern wurde bzw. wird unsere Sicht der Geschichte durch die Propaganda des Ns-Regimes beeinflusst?
Welches war die Sicht der Täter auf die Ghettos? Was empfanden die Bewohner? Berichte der Ghettobewohner, wie z.B. Briefe, Tagebucheinträge und auch gezielt geschriebene Berichte für die Nachwelt wie sie z.B. das Ringelblum-Archiv enthält, sind hier sehr aufschlussreich. 


Ghettobewohner

 
Marcel Reich-Ranicki, der im November 1940 zur Umsiedlung ins Warschauer Ghetto gezwungen worden war, arbeitete im Untergrundarchiv mit. Er berichtet in seinen Aufzeichnungen, wie die Wehrmacht im September 1939 in Polen einmarschierte. Zunächst gab es eine Zählung der Juden. In den nächsten Tagen liefen die Soldaten mit Scheren bewaffnet durch die Städte und schnitten vielen frommen Juden zur Erniedrigung die Bärte ab. Dabei erwähnt er, dass dies auch unter dem Beifall einiger Polen geschah, welche sich fälschlicher Weise in Sicherheit wiegten (Q4). 
Nachdem am 15. November 1940 das Ghetto in Warschau offiziell eingerichtet worden war, wurde den Juden strikt verboten, dieses ohne Erlaubnis zu verlassen. Es wurde unmittelbar mit der Errichtung der Ghettomauern begonnen, an welchen jüdische Maurer unter der Aufsicht der deutschen Soldaten arbeiteten. Wenn die Arbeiter nicht schnell genug waren, drohten ihnen Peitschenhiebe der Aufseher.  So berichtet es Miriam Wattenberg in ihrem Tagebuch (Q1). Vorerst durften die Ghettobewohner sich noch einigermaßen frei bewegen. Sie durften z.B. mit der Eisenbahn ins Warschauer Umland fahren um Lebensmittel etc. zu besorgen. Am am 1. September 1941 wurde verordnet, dass Juden eine Kennzeichnung am Arm tragen mussten. Von nun an war es ihnen nicht mehr erlaubt, das Ghetto zu verlassen. Wer bei dem Versuch, sich ohne Armband beispielsweise mit der Eisenbahn zu entfernen, um Besorgungen zu machen, erwischt wurde, konnte auf der Stelle erschossen werden. Gleichzeitig wurden weiterhin jüdische Arbeiter zu Arbeit außerhalb des Ghettos verpflichtet. Bei der Rückkehr jedoch wurden sie strengstens kontrolliert, da es strikt verboten war Lebensmittel, Medikamente oder ähnliches hinein zu schmuggeln. Die Bewohner des Ghettos litten Hunger. Hinzu kamen Krankheiten wie Fleckfieber, welche sich ausbreiteten. „Der Tod lag auf der Straße“ erinnert sich Isaak Wasserstein. Da sich der jüdische Friedhof außerhalb des Ghettos befand, konnten die Toten nicht einmal nach religiösen Vorschriften beerdigt werden. Sobald die deutschen Soldaten kamen, begann für die Bewohner des Ghettos die Hölle, sagt er (Q3).   
Aber nicht nur dass unerlaubte Verlassen des Ghettos wurde mit dem Tod bestraft, sondern auch das Feiern jüdischer Feste und Gottesdienste. Dennoch wurden diese heimlich organisiert. Miriam Wattenberg berichtet von einem Pessach-Fest, welches sie als „wundervolle Erfahrung“ empfand. Sie erzählt, wie sie auf Hebräisch die an die Nazis gerichteten Verwünschungen vortrug (Q1). Doch sie wehrten sich nicht nur verbal. 1943 fand der Ghettoaufstand statt. Die Juden leistetetn gewaltsamen Widerstand gegen die Unterdrückung (mehr dazu im Text zum Warschauer Ghettoaufstand). Der Aufstand wurde unter der Leitung des SS-Manns Jürgen Stroops brutal niedergeschlagen. Mordechai Anielewicz, ein Mitglied des ZOB-Kommandos, beschreibt in einem Brief an Yitzhak Zuckerman, welcher sich auf der „arischen“ Seite der Stadt befand, die Bedingungen, unter denen die belagerten Juden lebten. Er schreibt, dass nur wenige ausharren würden und dass in den Bunkern, in denen sich ihre Kameraden befänden, keine Kerze
 angezündet werden dürfe, wegen des Sauerstoffmangels. Weiter schreibt er, dass es das Wichtigste sei, dass die Kämpfer den Aufstand noch in „ihrer ganzen Größe und in ihrem ganzen Ruhm“ erleben dürften (Q5).

Der deutsche Soldat Heinrich Jöst machte am 19. September 1941 dieses Bild ohne Auftrag.


Besatzer

 
Wie stellten die Nationalsozialisten die Lage dar? Wie fassten Soldaten der Wehrmacht die Judenverfolgung auf?
 
Der schon erwähnte Jürgen Stroop, Generalleutnant der Waffen-SS, spielte eine führende Rolle bei der Niederschlagung  des Warschauer Ghettoaufstand, der sogenannten „Großaktion“. Er dokumentierte ausführlich seine Handlungen und das Vorgehen der SS während der Niederschlagung des Aufstandes. Er erklärt, dass er schon früh erkannt habe, dass der ursprünglich gedachte Plan nicht ausführbar sei. Weiterhin schreibt er, dass er sich kein größeres Chaos vorstellen könne, als jenes im Warschauer Ghetto. Von den Aufständischen, die er einerseits als „hartnäckig“ kennzeichnet, spricht er als „Banditen“, unter denen sich auch „polnische Banditen“ befänden. Stroop behauptet über einen Betriebsleiter, dass er keine Kontrolle mehr über die Juden seiner Fabrik habe, so dass sie in der Lage seien, Waffen wie Molotow-Cocktails herzustellen. Stroop ließ den Betrieb in Flammen aufgehen. Weiterhin behauptet er, dass einige reiche Juden es geschafft hätten, sich als Rüstungsarbeiter zu tarnen und in den Fabriken ein „herrliches Leben führten“. Er schreibt, dass festgenommene Juden aussagten, dass Firmeninhaber mit ihnen „Zechgelage“ veranstalteten, bei denen Frauen eine wichtige Rolle gespielt hätten. Im Laufe der Gelage hätte es gemeinsame Geschäfte gegeben.
 
Der rassistische und von Propaganda durchzogene Stroopbericht vermittelt ein ganz anderes Bild als der Widerstandskämpfer Anielewicz. Übereinstimmend scheint zu sein, dass Juden es schafften auf die „arische“ Seite der Stadt zu gelangen, da Anielewics Brief an einen solchen gerichtet ist. Wie es in den Bunkern aussah, beschreibt Stroop nicht. Über seine eigenen Männer schreibt er, dass sie und die Wehrmachtssoldaten wie auch die Polizei immer in „treuer Waffenbrüderschaft“, „treu und beispielhaft“ ihren Mann stünden. Während er die Juden während des Widerstandes verunglimpft, stellt er die Soldaten als stark kämpfende Leute da, welche es nicht einfach hätten. Dies begründet er unteranderem mit der nur drei bis vier Wochen dauernden Ausbildung der SS-Soldaten. Er schreibt auch, dass die Maßnahmen gegen die Juden eher positiv von der polnischen Bevölkerung aufgefasst wurden (Q7). 
 
Der ehemalige Wehrmachtssoldat Carl Dirks berichtet von der ersten Massenerschießung von Juden, an der er teilnahm. Er erklärt, dass seine Einheit kurz vor Kiew von den ersten Judenvernichtungen hörte. Freiwillige wurden zu Schießübungen in einer anderen Einheit gesucht. Dies erschien den Soldaten merkwürdig. Nur einer meldete sich, da alle ein Unwohlgefühl dabei überkam, erinnert er sich. Als der Freiwillige zurückkam, brachte er viel Alkohol mit und berichtete, dass Gefangene erschossen wurden. Dabei zeigte er weder Schuldgefühle, noch ein schlechtes Gewissen, entsann sich Dirks weiter. Er erklärte, dass die Vorgesetzten nie ein solches zeigten. Im Gegenteil, ergänzte er, drohten sie denen, die Bedenken äußerten. Weiterhin antwortete er auf die Frage, wer verantwortlich für diese Taten gemacht wurde, dass niemand dafür verantwortlich gemacht wurde. Man dachte gar nicht wirklich darüber nach, da man ganz andere überlebenswichtigere Sorgen hatte, erklärte Dirks. Dieses Beispiel zeigt den Wissenstand der Frontsoldaten über die Vernichtung der Juden. (Q7) 
Über das Leben im Warschauer Ghetto finden sich eher wenige Berichte auf Seiten der Täter. Vieles wurde es in Fotos festgehalten, wozu die Bewohner eher weniger die Chance hatten. Die Fotos waren jedoch meistens zur Propaganda gedacht. Auf den Bildern werden die Soldaten oft als treu, pflichtbewusst und mit sauberer Kleidung gezeigt, während die Juden als elendig dargestellt werden. Man auch viele Bilder von Verhungernden, vor allem Kinder.  


Fazit

 
Viele der Fotos über das Ghetto sind Propagandafotos. Sie dienten der Rechtfertigung des Handelns des Regimes und der Bestätigung der rassistischen Vorurteile gegenüber den Juden.  Die Ghettoisierung der jüdischen Bevölkerung wurde durch Fotos, auf welchen Schmutz, Elend und Krankheiten gezeigt wurden, propagandistisch untermauert. Solche Fotos wurden z.B. von dem polnischen Fotograf Mieczyslaw Bilazewski gemacht (Q8). Fotos des niedergeschlagenen Widerstandes zeigten die Macht und Kraft der SS. Es gibt auch Bilder, welche ohne Auftrag entstanden sind oder evtl. sogar von einem Ghettobewohner stammen. Ohne Auftrag entstanden ist z.B. das oben gezeigte Foto des deutschen Soldaten Heinrich Jöst.
Wenn wir heute Bilder des Warschauer Ghettos sehen, sollte immer darauf geachtet werden, von wem diese gemacht wurden und mit welcher Intention. Propagandafotos erkennt man unteranderem daran, dass wenn ein Soldat oder anderer nationalsozialistischer Bürger gezeigt wird, dieser geputzte Stiefel trägt oder allgemein sehr ordentliche Kleidung. Das Bild ist dann extra inszeniert. Man sollte aich die Quelle immer genauer betrachten: von wem stammt das Fotos, wie ist der Kontext, welche Intention wurde verfolgt. 


Berichte von Ghettobewohnern:
 
Q1 https://www.deutschlandfunk.de/holocaust-ueberlebende-mary-berg-tagebuch-aus-der-100.html
 
 
Q2 https://www.bpb.de/themen/nationalsozialismus-zweiter-weltkrieg/geheimsache-ghettofilm/153354/die-wahrheit-soll-leben-das-untergrundarchiv-im-warschauer-ghetto/ 
 
 
Q3 https://www.zeitzeugen-portal.de/zeitraeume/jahrzehnte/1940/wege-nach-auschwitz/RtSs-eyloU8 
 
 
Q4 https://www.zeitzeugen-portal.de/zeitraeume/jahrzehnte/1940/wege-nach-auschwitz/MAMKCXuwtec 
 
Q5 Enzyklopädie des Holocaust, Band III Q-Z (Serie Piper) 
 
Berichte von Besatzern:  
Q6 https://www.herder-institut.de/digitale-angebote/dokumente-und-materialien/themenmodule/quelle/1621/details.html 
 
Q7 https://www.zeitzeugen-portal.de/personen/zeitzeuge/carl_dirks/videos/3zg7K2xKsgM 
 
Q8 https://www.welt.de/geschichte/zweiter-weltkrieg/article115181236/Das-Warschauer-Getto-in-den-Augen-der-Besatzer.html 
 
(Autorin: Adelheid Blanc)